Friedrich Merz : « Genug ist genug! Das Spiel ist aus! »

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser 24. Februar 2022 wird uns allen als ein Tag im Gedächtnis bleiben, von dem wir später einmal sagen werden: Ich weiß noch genau, wo ich war, als ich die erste Nachricht vom Krieg in der Ukraine gehört und die ersten Bilder davon gesehen habe. – Unsere ersten Gedanken in diesen Minuten galten und sie gelten unverändert bis heute dem ganzen Volk der Ukrainer.

Wir trauern mit den Familien um die Opfer, die es bis heute und auch in diesen Stunden und Minuten in so großer Zahl – auch unter der Zivilbevölkerung – gibt. Und wir bewundern den Mut und den Willen dieses Volkes, um seine Freiheit zu kämpfen. Wir sind zugleich beschämt und bedrückt, dass wir diesem Land und diesem Volk nicht schon haben früher helfen können. Unsere größte Bewunderung und unser größter Respekt gilt dem frei gewählten Staatspräsidenten der Ukraine, Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Diesen mutigen Mann, der aus einer jüdischen Familie stammt, als drogenabhängig und als Nazi zu diffamieren, wie es der russische Präsident in dieser Woche getan hat, zeigt ein Ausmaß an Niedertracht und Menschenverachtung, wie wir es in den letzten Jahrzehnten auf diesem Kontinent nicht erlebt haben.

merz01
Friedrich Merz : « Genug ist genug! Das Spiel ist aus! » 1

Herr Bundeskanzler, Sie haben es so ausgedrückt: Mit diesem Krieg geht eine Zeitepoche in Europa zu Ende, eine Zeit, von der wir uns erhofft und geglaubt haben, dass sie im Frieden und in Freiheit und natürlich auch im Wohlstand im ganzen 21. Jahrhundert voranschreitet. Seit wenigen Tagen sind wir nun eines Besseren belehrt. Brutal und rücksichtslos hat ein autoritäres System einen Angriffskrieg mitten in Europa begonnen – ja, mitten in Europa; denn dieser Krieg findet statt zwischen den beiden territorial größten Ländern Europas.

Russland ist ein europäisches Land, und die Ukraine ist ein europäisches Land. Der Krieg findet statt weniger als zwei Flugstunden von diesem Ort entfernt, an dem wir uns heute Morgen, an einem Sonntag, treffen.

Herr Bundeskanzler, ich möchte Ihnen im Namen der Unionsfraktion und der sie tragenden Parteien CDU und CSU für Ihre Regierungserklärung danken.

Sie wissen, dass wir sehr darum bemüht sind, mit Ihnen und den Sie tragenden Koalitionsfraktionen einen gemeinsamen Weg in dieser Zeit einer großen Herausforderung zu gehen. Wir haben in den letzten Tagen mit Ihren Fraktionen um gemeinsame Antworten gerungen, und wir geben sie wieder in einem Entschließungsantrag, den wir heute gemeinsam mit der SPD, den Grünen und der FDP einbringen. Aber lassen Sie mich das ganz deutlich sagen: Dieser Antrag ist nur das gemeinsame Minimum, das wir heute hier feststellen können. Wir haben und wir behalten hoffentlich auch in der Zukunft eine klare Auffassung zu diesem Krieg und seinem einzigen Verantwortlichen. Der verantwortliche Mann heißt Wladimir Putin.

Aus diesem „lupenreinen Demokraten“, der er nie war, ist nun endgültig und für alle Welt sichtbar ein Kriegsverbrecher geworden.

merz02
Friedrich Merz : « Genug ist genug! Das Spiel ist aus! » 2

Aber so einen Krieg befiehlt nicht einer allein, und er entsteht auch nicht ohne ein politisches Umfeld. Das verantwortliche System um ihn herum ist ein Geflecht aus Geheimdienstoffizieren und erprobten Meistern der politischen Propaganda wie etwa seinem Außenminister Lawrow, ein Geflecht aus einer großen Gruppe hemmungsloser Oligarchen, die sich die Ressourcen dieses Landes unter den Nagel gerissen haben, und vor allem aus einem repressiven Staatsapparat, der ohne jeden Anflug von Rechtsstaatlichkeit beliebig verhaftet, vergiftet, in Lager steckt, Familien zerstört und auch nicht davor zurückschreckt, mitten in den Ländern Westeuropas Auftragsmorde zu vollstrecken.

Damit an dieser Stelle, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, überhaupt kein Missverständnis entsteht: Die Verantwortlichkeit liegt allein dort und allein bei diesen handelnden Akteuren. Aber zu diesem Netzwerk zählen seit vielen Jahren auch mehr oder weniger gutgläubige Interessenvertreter in aller Welt, auch und gerade hier in Deutschland, die sich einmal als Putin-Versteher gerieren, das andere Mal als Freunde Russlands, die bis hin zu windigen Stiftungskonstruktionen nichts unversucht lassen, mit diesem System Geschäfte zu machen, und dann auch noch versuchen, das Ganze der Öffentlichkeit als gemeinnützig zu vermitteln.

Sie als „nützliche Idioten“ ganz im Sinne der Lenin’schen Denkmuster zu bezeichnen, ist dann wohl noch die freundlichste Umschreibung dieses Treibens auch und gerade hier in Deutschland, meine Damen und Herren.

Die Bedrohung der Ukraine durch einen Angriffskrieg ist aber nicht die einzige Bedrohung, die wir in diesen Tagen sehen. Parallel zu den Panzern rollen seit Jahren Wellen von Propaganda durch Europa, die in Zeiten der Digitalisierung und der sozialen Netzwerke eine hohe Effizienz und damit einen großen Schaden erzeugen, einen Schaden, der auch unsere gesellschaftliche Ordnung von innen bedroht, meine Damen und Herren.

Zu dieser Propaganda zählt seit Langem die Behauptung, die NATO sei der eigentliche Aggressor gegen das friedliebende Russland. Dieses in der Tat großartige Land müsse sich nun, so der allmächtige Staatsapparat und sein Präsident, gegen eine militärische Bedrohung zur Wehr setzen. Dabei wissen sie alle es besser. Herr Putin, Sie sind und waren von der NATO nie bedroht; das wissen Sie auch.

– Meine Damen und Herren, wenn wir sehen, wer an dieser Stelle jetzt klatscht und wer jetzt nicht klatscht, dann wissen wir, welche Reden wir hier im Laufe des heutigen Vormittags von ganz links und von ganz rechts noch zu hören bekommen. Wir wissen jetzt schon, wenn wir uns das hier anschauen, wie Sie hier gleich sprechen werden.

kw08 sondersitzung merz bild
Friedrich Merz im Bundestag am 27.02.2022 – Bundestag Foto Xander Heinl

Meine Damen und Herren, die einzige Bedrohung, die es für Putin und seine Nomenklatura gibt – und die nimmt er zu Recht sehr ernst -, ist die Bedrohung seiner Macht durch das eigene Volk, die Bedrohung durch Freiheit und Demokratie auch in seiner Nachbarschaft. Da ist die Bedrohung für dieses System. Deshalb unterdrückt Putin im eigenen Land jede Opposition, und deshalb macht er gemeinsame Sache mit Alexander Lukaschenko, der heute, an diesem Tag, während wir hier zusammentreten, ein sogenanntes Referendum in Belarus abhalten lässt, um die Verfassung zu ändern und ab dem morgigen Tag in diesem Land Atomwaffen stationieren zu können. Meine Damen und Herren, das ist die neue Realität, in der wir in dieser Woche aufgewacht sind.

Die Staatengemeinschaft des Westens, die Europäer, die Amerikaner, viele andere Länder auf der Welt, reagieren auf diesen Bruch des Völkerrechts und aller Verträge, die wir mit Russland bisher geschlossen haben, mit Konsequenz und Härte. Russland wird international isoliert, das Land und seine Repräsentanten werden auch persönlich sanktioniert. Dazu gehört – damit das hier auch von meiner Seite aus klar ist – richtigerweise, dass Russland jetzt aus SWIFT, dem internationalen Zahlungssystem, ausgeschlossen wird.

Herr Bundeskanzler, herzlichen Dank, dass Sie das heute Morgen hier gesagt haben, dass Sie in den letzten Tagen darüber intensive Gespräche und Verhandlungen geführt haben, einschließlich der Frage, wie mit Waffenlieferungen aus mehreren europäischen Ländern in die Ukraine jetzt umzugehen ist. Wichtig ist das klare und unmissverständliche Signal vom heutigen Tag: Genug ist genug! Das Spiel ist aus!

merz03a
Friedrich Merz : « Genug ist genug! Das Spiel ist aus! » 3

Lassen Sie mich aber auch sehr deutlich sagen: Gefragt sind am heutigen Tag nicht gute Reden allein. – Und gute Regierungserklärungen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das war eine gute Regierungserklärung.

Gefragt sind Stringenz und Durchhaltevermögen in den nächsten Tagen und Wochen. Dieses Durchhaltevermögen kann schon in wenigen Tagen auf harte Proben gestellt werden. Die Sanktionen werden Wirkung entfalten, nicht nur in Russland, sondern auch hier bei uns. Der Krieg in der Ukraine wird Konsequenzen fordern, nicht nur in der Verteidigungspolitik, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, bieten wir Ihnen und Ihrer Regierung an dieser Stelle heute umfassende und konkrete Hilfe und Unterstützung an. Wenn Sie um Unterstützung und Zustimmung für die jetzt notwendigen umfassenden Sanktionen werben – und Sie tun es hier heute Morgen -, dann werden wir das unterstützen und nicht im Kleinen herummäkeln.

Wenn Sie eine umfassende Ertüchtigung unserer Streitkräfte wollen – und wir wollen Sie ab heute ganz offensichtlich mit Ihnen -, dann werden wir auch gegen Widerstände diesen Weg mit Ihnen gehen.

Wenn Sie es für notwendig erachten, die Energiepolitik und die Ihrer Regierung neu auszurichten, wenn Sie mit uns der Meinung sind, dass wir jetzt endgültig auf keine weiteren Optionen der Energieerzeugung mehr verzichten dürfen, dann finden Sie dabei unsere tatkräftige Unterstützung.

Wenn Sie es so wollen, wie Sie es heute Morgen hier vorschlagen, dann können wir auch darüber, Herr Bundeskanzler, reden. Aber ein Sondervermögen ist nicht ein Vermögen, sondern ein Sondermögen bedeutet zunächst einmal neue Schulden.

Wie wir diese neuen Schulden aufnehmen und wie wir sie dann möglicherweise in unserer Verfassung verankern, das kann nicht allein im Rahmen einer Regierungserklärung am Sonntagmorgen geklärt werden. Darüber müssen wir dann in Ruhe und im Detail sprechen.

Lassen Sie mich auch dies ganz klar sagen: Das machen wir dann in allen Teilen gemeinsam, nicht in der Arbeitsteilung, dass wir für Sie bei den unangenehmen Dingen den Kopf hinhalten und Sie in Ihrer Koalition unverändert alle Wohltaten weiter zulasten der jungen Generation verteilen, Herr Bundeskanzler. Das machen wir dann nicht!

merz04a
Friedrich Merz : « Genug ist genug! Das Spiel ist aus! » 4

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind ja alles die mehr oder weniger naheliegenden Entscheidungen, die wir jetzt kurzfristig treffen müssen. Die eigentliche Herausforderung ist doch eine ganz andere, und sie liegt viel tiefer: In Wahrheit stehen wir spätestens mit dieser Woche vor einem Scherbenhaufen der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte.

Einige der vermeintlichen Gewissheiten der letzten Jahre gehören nun endgültig der Vergangenheit an. Wir sind nicht mehr nur von Freunden umgeben. Auch wir werden durch einen aggressiven Staat in unserer direkten Nachbarschaft bedroht. Einseitige Abrüstung führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit.

Oder hat hier im Haus irgendjemand vergessen, dass die Ukraine 1994 alle ihre Atomwaffen abgegeben hat und im Gegenzug von Russland umfassende und dauerhafte Garantien der territorialen Integrität erhalten hat? Hat das irgendjemand von Ihnen hier vergessen?

Lassen Sie mich das so sagen: Lichterketten, Friedensgebete, Ostermärsche sind eine schöne Sache. Auch wir haben heute Morgen mit einer Gruppe von Abgeordneten aus einigen Fraktionen des Deutschen Bundestages für den Frieden in der Welt und das Ende dieses Krieges gebetet.

Aber, meine Damen und Herren, mit Moral allein wird die Welt um uns herum nicht friedlich, schon gar nicht mit der angeblich besseren Moral, die immer wieder auch in Deutschland vorgetragen wird. Der Ukraine jedenfalls haben gute Worte nichts genutzt, auch nicht die vertagte Mitgliedschaft in der NATO, meine Damen und Herren. Und schließlich: Auch Deutschland muss endlich bereit sein, in dieser Welt seine Interessen zu definieren, und vor allem bereit sein, diese Interessen auch durchzusetzen. Dazu zählt nicht nur, aber auch die Fähigkeit, das eigene Territorium und die eigene Bevölkerung wirksam gegen jedwede Form der Gewalt und der Nötigung zu schützen und zu verteidigen.

Die Bundeswehr ist dazu – soweit sie gefragt ist – am heutigen Tag jedenfalls nicht in der Lage.

(Norbert Kleinwächter (AfD): Ja, nach 16 Jahren CDU! – Weitere Zurufe von der AfD)

– Darauf reagiere ich nicht. Aber ich reagiere schon, wenn Sie das zu einem Thema der parteipolitischen Auseinandersetzung machen.

(Norbert Kleinwächter (AfD): Ihre historische Schuld! – Weiterer Zuruf von der AfD: 16 Jahre CDU!)

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir alle miteinander in diesem Haus – ich war schon ziemlich früh dabei – sind verantwortlich dafür, dass die Bundeswehr in dem Zustand ist, in dem sie heute ist. Wir haben uns bemüht, das zu verbessern. Vieles ist an Ihnen gescheitert. Wenn wir heute einen neuen Weg nach vorne gehen, dann gehen wir ihn gemeinsam, aber nur dann, wenn wir ihn jetzt wirklich gemeinsam nach vorne gehen, und nicht, wenn wie Sie hier parteipolitisch zurückblicken.

Das alles sind Annahmen und politische Einschätzungen, die Sie hier im Hause teilen mögen oder auch nicht. Die eigentliche Führungsaufgabe kommt in diesem historischen Augenblick so oder so auf Sie zu, Herr Bundeskanzler.

Lassen Sie mich deswegen abschließend aus einer großen deutschen Tageszeitung zitieren, die es vor einigen Tagen aus meiner Sicht sehr präzise auf den Punkt gebracht hat. Der Autor schreibt am Ende einer sehr ernüchternden Analyse wie folgt:

Die eigentliche Rechnung aber wird in Deutschland selbst fällig, wo diese … Krisendichte auf eine weitgehend unvorbereitete Bevölkerung trifft, der schlicht das Handwerkszeug fehlt, um mit Erpressung, Nötigung, militärischer Bedrohung … auf das politische System umzugehen. Unsicherheit – so schreibt er weiter – entsteht durch einen Aggressor. Aber gefährlich wird sie erst durch Schwäche. Ende des Zitats.

Das notwendige Handwerkszeug bereitzustellen, Herr Bundeskanzler, um diese Schwäche in unserem Land zu beseitigen, ist seit dieser Woche die historische Aufgabe Ihrer Kanzlerschaft.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Friedrich Merz : « Trop, c’est trop ! la partie est terminée »